Kapitel 6
Hoffnungslos
6
„Das war ihm wohl nicht genug!“, meinte Ewa.
„Das war ihm bestimmt nicht genug!“, gab Ulrich zurück.
Er kramte weiter in seinem Rucksack und warf der Bestie alles zu, das er noch so hatte: Ein Stück Brot, seine Decke, die Milchflasche – die klirrend zwischen dessen Zähnen zerbarst – und zum Schluss den Rucksack selbst, da Ulrich die Möglichkeiten ausgingen. Das Untier verschlang alles, egal ob schmackhaft oder nicht.
„Verdammt, was tun wir jetzt?“, fragte Ewa und wich weiter zurück, bis sie an der Höhlenwand nicht weiter konnte. Dort entdeckte sie am Boden eine fiepende Einhornratte. Für gewöhnlich hätte sich das Mädchen im Anblick dieser grässlichen Kreatur wohl verkrümelt und sich um ihr Leben gefürchtet, doch in diesem Moment gab es eine größere Gefahr. Also packte sie das kleine Nagetier mit dem vereinsamten Horn auf der Stirn – welches bei den kräftigen Fingern des Mädchens laut aufquiekte – und warf es in Richtung des Drachens. Doch ihre Wurfbahn war schief und die Ratte knallte gegen die Höhlenwand und als sie am Boden landete, wuselte sie wild schimpfend aus dem Höhleneingang.
„Wir können nur warten, bis es zu wirken beginnt …“
„Bis was zu wirken beginnt?“, wollte das Mädchen hysterisch wissen.
„Das Gift.“, antwortete Ulrich mit ruhiger Stimme. Ewa schaute verwirrt zum Feind und überlegte, ob sie etwas verpasst hatte. Welches Gift meinte der alte Mann? Welcher normal Denkende hatte Gift in seinen Taschen!?
Doch der Drache machte keine Anstalten. Nichts zeigte dem Alten, dass es bereits zu wirken begonnen hätte.
„Geh weiter zurück in die Höhle, damit dir auch wirklich nichts passiert.“, befahl er.
Ulrich zog sein Schwert und zeigte damit in Richtung des Drachens. Das Untier warf den großen Schädel in den Nacken und brüllte, als wäre es ein Kneipengänger, der sich über Freibier freute. Doch es dauerte nicht mehr lange, da hatte der alte Mann bemerkt, dass der Drache nicht mehr ganz Herr über seine eigenen Kräfte war. Wie von einem Rausch, als hätte der Drache zu tief ins Glas gekuckt, verließ ihn allmählich die Beherrschung über seine Bewegungen.
„Er torkelt bereits, er wird nervös. Er weiß nicht, wie ihm geschieht.“, beschrieb Ulrich.
Kurz ließ der Drache einen rülpsenden Laut los, der von einem kurzen Feuerstoß gefolgt wurde. Anschließend lief ihm eine ölige Flüssigkeit aus dem Rachen, die er ansonsten anscheinend zum Feuermachen verwendete und in seinem Körper speicherte und produzierte. Über die Drachenanatomie und wie sie nun wirklich Feuer machten, kannte sich Ulrich nicht aus. Es war ihm auch reichlich egal, denn dafür hatte er gerade keine Nerven. Er wusste jedoch, dass nun der beste Moment gekommen war. Besser würde es nicht mehr werden.
Der Drache, der das Schwert nicht weiter wahrnahm, japste nach Luft und gab gurgelnde Laute von sich. Er schien zu tänzeln, als würde ihm sein Drogenrausch gefallen. Doch Ulrich würde keine Schwäche des Drachens tolerieren.
Er wedelte mit dem Schwert in der Luft um das Tier zu provozieren. Die Bestie gab ihren Kopf gereizt nach hinten, als sei sie verwundert, auf Gegenwehr gestoßen zu sein.
„Ho! Ho! Verschwinde elende Bestie!“, brüllte Ulrich.
Der Drache, der selbst unter Einfluss der giftigen Pilze noch seinen Stolz besaß, ließ sich diesen Ton verständlicherweise nicht gefallen. Für gewöhnlich war er es, der jemanden bedrohte. Nun schnappte das Wesen nach Ulrich, verfehlte aber andauernd, da seine räumliche Wahrnehmung ordentlich im Eimer war. Das Untier sah Ulrich nicht nur zwei, sondern drei – ach was! -, vier mal!
Alles drehte sich im Blickfeld des Gegners und der Drache blinzelte etliche Male mit seinen diversen Augenlidern.
„Na! Das hättest du dir nicht erwartet, was!?“, fragte Ulrich hämisch.
„Pass auf, Ulrich!“, mahnte ihn Ewa.
„Ach was, der ist keine große Gefahr mehr!“ Der alte Mann war siegessicher und wurde übermütig wie ein Jüngling.
Da schnappte der Feind wieder und verfehlte Ulrich nur um Haaresbreite. Der Alte wiederum versuchte dem Tier sein Schwert während dessen Fehlversuch durch die Gurgel zu rammen oder auf den Hals zu schlagen, doch jenes hatte seinen Kopf stets flink aus der Gefahrenzone entfernt.
„Mist!“, fluchte der Alte.
Das Vieh kreischte, schnappte erneut und schubste den alten Mann um, welcher sein Schwert scheppernd an den Boden verlor. Diese Gelegenheit nutzte der Drache und packte Ulrich am linken Arm und biss zu. Diese schreckliche Erfahrung dauerte vielleicht nur wenige Sekunden, doch für Ulrich schien es wie eine Ewigkeit. Er spürte jeden einzelnen Zahn, der sich durch seine Haut bohrte. Er spürte, wie sich der brennende Speichel der Bestie mit seinem Blut vermischte und in seine Blutbahn floss. Er spürte den heißen Atem, wie er ihm ins Gesicht blies. Für einen Drachen war es kein kräftiger Biss – immerhin konnte das Tier sich nicht mehr kontrollieren – doch für Ulrich war es der schlimmste Schmerz, den er je erlitten hatte. Er bildete sich sogar ein, seine Knochen knacken zu hören.
„ULRICH!“, schrie Ewa empört und rang anschließend nach Luft.
Nachdem ihm der Alte auf die Nase schlug, ließ das Tier nach einem kurzen Biss wieder locker und wankte gegen die Höhlenmauer. Es hatte keine Kontrolle mehr über sein Gleichgewichtsgefühl und donnerte mit dem Schädel gewaltig gegen die Wand, was den Drachen kurz zusammensacken ließ. Ulrich, der noch schmerzerfüllt seinen Arm hielt, bemerkte, dass dies nicht der Zeitpunkt für Selbstmitleid war. Er könnte es nun beenden, oder es im nächsten Moment vom Drachen beenden lassen, es lag alles an ihm. Also hechtete der alte Mann zu seinem Schwert, packte es fest und drückte dessen Spitze geschwind durch die Kehle des Ungetüms, während es verwundbar und unaufmerksam war. Die warme, dunkelrote Brühe lief über Ulrichs Klinge auf seine Hand und tropfte anfänglich auf den Boden, bevor sie zu einem regelrechten Wasserfall aus Blut wurde.
Nachdem er Langharon herausgezogen hatte, schrie der Drache im Anblick seines eigenen Blutes auf. Es schoss nur so aus dessen Hals. Doch wer solche Lebensformen kennt, weiß, dass sie in einen gefährlichen Blutrausch verfallen, wenn genügend davon riechbar wird. In seinem benebeltem Geiste bemerkte der Drache zwar nicht, dass es sein eigenes Blut war, doch Blut war in diesem Moment einfach Blut und das steigerte seinen unersättlichen Hunger nur noch mehr.
„Bei den Göttern!“, fluchte der Alte, als er bemerkt hatte, dass die Bestie nicht tot war.
„Stoß es ihm in sein Herz!“, befahl Ewa.
„Das geht nicht!“, widersprach Ulrich, als er einem Klauenhieb des Drachens auswich.
„Warum nicht!?“, wollte sie wissen.
„Weil … ah! Weil seine Panzerung zu dick ist … und jetzt lenk‘ mich nicht weiter ab!“
Ulrich machte einen Satz zur Seite, als der Gegner ihn mit seinem peitschen-ähnlichen Schwanz aus der Drehung erwischen wollte. Der Drache tanzte wie eine betrunkene Schneekönigin übers Eis und donnerte andauernd gegen die Wände der Höhle oder fiel hin.
Als der Drache erneut zuzuschnappen versuchte, stieß der Alte noch einmal zu und stach dem Untier dabei ein Auge aus. Ein gellender Schrei erfüllte die Höhle und Ulrich hörte anschließend nur noch ein Rauschen und Piepsen in den Ohren. Als Antwort darauf wollte der Drache eine Feuersalve ausstoßen, doch er konnte keinen Druck aufbauen und das brennende Öl hing ihm wie eine Zunge aus dem Maul.
„Ha! Du Mistvieh!“, verspottete Ulrich das Getier.
Der Drache wurde wütend und versuchte es erneut, indem er sich zu Ulrich hinunterbeugte. Der Alte konnte den anbahnenden Druck in dem Tier förmlich spüren und sah den Moment gekommen, ihm endlich den Garaus zu machen. Bevor das Untier überhaupt nur ansatzweise Feuer speien konnte, stieß Ulrich ihm die Klinge mit beiden Händen – obwohl ihm der linke Arm noch immer unaushaltbar schmerzte – in den Rachen. Er drehte die Klinge und nach einem kurzen Moment zog er sie anschließend wieder hinaus. Der Drache keuchte und hustete Blut, zog den Kopf nicht zurück und schenkte Ulrich somit eine unvergleichbare Gelegenheit, ihn zu töten. Dieser hob erneut aus, doch dieses Mal trieb er der Bestie die Klinge von oben durch den Schädel, bis dieser lautstark am Boden aufprallte.
Erst als der Gegner sich nicht mehr rührte, zog der alte Mann seine Klinge aus dessen Kopf.
„Ist er … tot?“, wollte Ewa wissen.
„Ich hoffe es, für ihn.“, gab Ulrich kühl zurück. „Und jetzt lass‘ uns schleunigst verschwinden, bevor seine Mutter zurückkommt!“