Vereinzelte Sonnenstrahlen drängten sich durch den Nebelschleier, um neugierig ihren Blick auf die Trümmer zu richten, die Ilzrath in Falensia hinterlassen hatte. Es war einst solch eine schöne Welt gewesen, in der die Schöpfungen der Götter friedlich miteinander leben konnten. Doch nun waren Whladis‘ stolze Bäume geknickt, die zuvor so kräftig und voller Lebenskraft prächtige Wälder geformt hatten. Die quirligen Pilze waren zertreten und die endlosen Wiesen umgepflügt und brach liegen gelassen. Wäre Ilzrath nicht in die Anderwelt verbannt worden, hätte Whladis ihm wohl eigenhändig den Hals umgedreht. Egal, wie viele Arme der sogenannte Nebeldrache auch besaß, gegen die geballte Wut vom Waldgott hätte nichts gereicht. Jener war für gewöhnlich zwar tugendhaft und gerecht, doch wenn er an seinen verhassten Bruder dachte, war er innerlich genauso grimmig, wie er sonst auch von außen wirkte. Und aufgrund seines vermaledeiten Bruders durften nun auch er und seine restlichen Geschwister nicht mehr auf Falensia wandeln und sich an der Schönheit ihrer sterblichen Kinder laben. Sie wurden zurück in das himmlische Reich Vhalnia gesperrt, wo ihnen nichts anderes blieb, als zuzusehen. Doch Whladis‘ stattliche Wurzeln reichten tief. Tiefer, als es den Anschein hatte …
Als einziger Gott kennt er einen Weg, um zwischen Falensia und Vhalnia zu reisen und diese Route wählte er angeblich nicht nur einmal. Er schritt in fremder Gestalt durch die Wälder, Tag ein, Tag aus. Am Anfang, als er Drachen oder Vögel in seinen Wäldern sah, wollte er sie zermalmen, doch was konnten sie für die Taten ihres Vaters? Ilzrath war derjenige, der sich Falensia unter den Nagel reißen wollte, nicht seine Kinder. Also ließ er sie gewähren und schluckte seinen glühenden Zorn hinunter.
Whladis liebte es, sich zwischen seinen Kindern breit zu machen. Er liebte ihren Duft, er liebte die Ruhe, die sie ausstrahlten. Er versuchte jedes einzelne zu besuchen und Zeit mit ihm zu verbringen, doch alles kam anders. Nach vielen Jahren erblickte er ein fremdes Kind. Anscheinend eine Tochter Thulias, denn sie war ein Mensch. Thulia wusste, wie man Schönheit in einen Körper verpacken konnte, denn der göttlichen Gestalt klopfte das Herz. Es pochte wild und entschlossen. Noch nie hatte er dieses Gefühl verspürt. Bei ihrem Anblick wurde ihm heiß und seine Atmung wurde schneller. Lag es am sterblichen Körper, den er für seine Reisen auserwählt hatte, oder wirklich an dem Menschenkind? Ihre Augen waren wie Honig, ihr Haar wie Seide. Plötzlich erblickte auch sie ihn und blieb stehen. Erst wirkten ihre Augen schockiert, doch dem Schock folgte ein sanfter Ausdruck, als würde sie einen alten Freund wiedersehen. Sie ging auf ihn zu, dabei war er doch in gar keiner menschlichen Gestalt! Er war eine Eiche und hatte sich festgewurzelt, als er sie erblickt hatte.
„Du bist aber eine schöne Eiche“, sprach das Menschenkind und berührte zärtlich seine Rinde. Ein Gefühl, als würde sich Gänsehaut über seinem ganzen Körper breit machen, durchfuhr ihn. „Dich habe ich hier noch nie gesehen.“
Wie konnte das sein? Konnten Menschen wahrlich einen Baum im Wald von anderen unterscheiden und erkennen, wenn einer neu war? So etwas gelang doch sonst nur ihm!
„Wo kommst du denn her?“ Sie strich weiter mit ihren Fingern über ihn.
Hör doch endlich damit auf!, dachte sich Whladis, der seine Erregung kaum in Zaum halten konnte.
„Du bist so, schön … So vollkommen“, fuhr sie fort und umarmte ihn plötzlich.
Whladis erschrak und wich plötzlich zurück. Die Frau tat dasselbe.
„Fürchte dich nicht, Menschenkind, denn ich bin der Waldgott!“, versuchte er die Situation zu retten. Doch die Furcht war bereits da, durchfuhr das bildhübsche Mädchen wie ein Speer und sie fiel ihn Ohnmacht, nur um später im Schoß des Waldgottes aufzuwachen. Es handelte sich um die Königin von Fanstein: Peternella Waldling. Whladis gestand ihr seine unendliche Liebe und versprach, dass ihr niemals jemand ein Leid zufügen werde, solange sie ihn ebenfalls liebte, was sie auch tat. Bis heute soll Whladis die gigantischen Mauern der Hauptstadt Ghantwall beschützen und selbst den mächtigen Mondkönig für sie vernichtet haben. Doch Peternella ist bereits tot, seit vielen, vielen Jahren. Beschützt der Gott noch immer die Mauern der Stadt, oder schreitet er verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Geliebten, einem Ersatz für Peternella, durch die Wälder?